Künstler:innenresidenz in Tscherniwzi
Wie äußert sich der Krieg in Tscherniwzi, obwohl die Stadt innerhalb der Ukraine mit am weitesten von unmittelbaren Kriegshandlungen entfernt ist? Können wir den Krieg deshalb ausblenden? Das mag wohl einigen Einwohner:innen tatsächlich gelingen. Doch Tscherniwzi ist Zufluchtsort für Zeugen des Kriegs und für Menschen aus Orten, in denen sie mehr oder weniger Unsicherheit erfahren (haben). Der Krieg ist allgegenwärtig in der Stadt. Seine Präsenz wird jedoch von sozialen Praktiken, Alltagsroutinen und einer gewissen Urlaubsatmosphäre im Stadtzentrum überdeckt. Dieses scheinbare Verschwinden des Krieges hinter den Alltag bringt uns jedoch die Normalität, die wir vor dem 24.2.22 erlebt haben, nicht zurück. Zugleich wissen wir, dass Erfahrungen, die nicht reflektiert werden, blinde Flecken im kollektiven Gedächtnis eines Ortes hinterlassen können. Ein öffentlicher Raum, in dem keine neue Sprache der Reflexion produziert wird bzw. der den Vorkriegscharakter beibehält, ist anfällig für eine klischeehafte Memorialisierung des Krieges. Daraus ergibt sich für die Einwohner:innen und für den öffentlichen Raum eine Reihe von Fragen.
Wie sollte eine Reflexion des Krieges in Tscherniwzi aussehen? Wie können verschiedenste Erfahrungen und Veränderungen, die wir durchleben, erfasst werden? Wie vermeiden wir, dass die Reflexion Retraumatisierungen auslöst? Welche Formen der Reflexion kann die Kunst für den öffentlichen Raum anbieten? Und was bedeutet diese Reflexion für die Herausbildung einer neuen Identität der Stadt?
Wir wollen eine Diskussion in Gang bringen, indem wir Künstler:innen aus verschiedenen Regionen und mit verschiedenen Kriegserfahrungen sowie Sichtweisen zusammenbringen. Wir wollen in dieser Zeit des Krieges mithilfe der Kunst über die Identität unserer Stadt, die sich weit entfernt von Kriegshandlungen befindet, nachdenken. Dabei wollen wir ortsansässige Künster:innen zur Reflexion anregen, wie sich die Stadt während des schon mehr als ein Jahr währenden Krieges verändert hat. Die Künstler:innen aus anderen Regionen bitten wir zu beobachten, wie die Stadt jetzt ist und was hier und was woanders passiert.
Wir organisieren eine zweiwöchige Residenz in Tscherniwzi für 5 junge Künstler:innen. Die Auswahl erfolgt über eine öffentliche Ausschreibung. Über 14 Tage — vom 22.August bis zum 16.September 2023 — erkunden sie Tscherniwzi gemeinsam mit der freien Kuratorin Anna Potjomkina, die sich intensiv mit dem Thema Peripherie beschäftigt. Sie treffen Expert:innen, diskutieren und entwickeln künstlerische Projekte für den öffentlichen Raum der Stadt. Nach einer einwöchigen Pause kommen die Teilnehmer:innen noch einmal nach Tscherniwzi, um ihre Arbeiten zu montieren und der Öffentlichkeit vorzustellen.
Die Residenz findet mit freundlicher Unterstützung des Goethe-Instituts Ukraine statt.
Sie ist ein Angebot für ukrainische Künstler:innen, aber wir werden über deren Verlauf und die Ergebnisse auch auf Deutsch berichten.